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Dr. Seiters über die Flüchtlingssituation: "Nationale Egoismen sind beschämend"

04.03.2016

Im „Weser Kurier“ ist am 1. März 2016 nachfolgendes Interview mit DRK-Präsident
Dr. Rudolf Seiters erschienen.



Liebe Abonnentinnen und Abonnenten des DRK-Presseinfo. Die DRK-Pressestelle informiert Sie in der Reihe „DRK im Gespräch“ in unregelmäßigen Abständen über wichtige Interviews, Reden oder Gespräche des DRK-Generalsekretariats.

Weser Kurier:
DRK-Präsident Rudolf Seiters spricht heute in Ganderkesee über die aktuelle Situation der Flüchtlinge
Dr. Rudolf Seiters war unter Bundeskanzler Helmut Kohl unter anderem Chef des Bundeskanzleramtes (1989 bis 1991) und Bundesinnenminister (1991 bis 1993). Von 1998 bis 2002 war er Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Seit 2003 ist er Präsident des Deutschen Roten Kreuzes. An diesem Dienstag hält der 78-jährige Politiker, der in Papenburg lebt, um 17 Uhr im Gymnasium Ganderkesee einen Vortrag zur aktuellen Flüchtlingssituation.

Frage: Das DRK betreut gegenwärtig in fast 500 Notunterkünften rund 140000 Flüchtlinge - Strukturen, die ja innerhalb von weniger als einem Jahr geschaffen
wurden. Ist der Eindruck richtig, dass die Flüchtlingskrise die Arbeit des DRK in Deutschland massiv „ durcheinandergewirbelt" hat? Und wie ist es Ihnen gelungen,
diesen Herausforderungen zu begegnen?
Dr. Seiters: Nothilfe gehört zu den ureigenen Aufgaben des Deutschen Roten Kreuzes. Beim Erdbeben in Nepal im vergangenen Jahr waren wir auch sofort vor Ort, um Zelte und andere Notunterkünfte aufzubauen. Wir sind darin also geübt, aber in dieser Dimension und dann noch im eigenen Land ist das schon etwas Außergewöhnliches. Jeden Tag sind rund 25000 DRK-Helfer, davon etwa 20000 ehrenamtlich, rund um die Uhr im Einsatz, um diese Herausforderung zu meistern.

Frage: In den vergangenen Wochen ist in der medialen Berichterstattung der Eindruck entstanden, dass die gesellschaftliche Zustimmung, Flüchtlingen zu helfen, ein wenig bröckelt. Wie erleben Sie die Situation, etwa wenn Sie Notunterkünfte besuchen? Hören Sie dort vermehrt Klagen oder sind die Hilfsbereitschaft und das Engagement unvermindert hoch?
Dr. Seiters: Die Stimmungslage in der Bevölkerung ist spätestens seit den Ereignissen in der Kölner Silvesternacht kritischer geworden. Das bereitet vielen unserer Helfer Sorgen, aber das Engagement und die Motivation sind nach wie vor sehr groß und geradezu überwältigend. Nach unserer Schätzung werden pro Monat allein von den DRK-Helfern 1,6 Millionen Stunden ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe geleistet. Hinzu kommen Tausende von ungebundenen, spontanen Helfern, die bisher keine Verbindungen zum DRK hatten und in unseren Notunterkünften mitmachen. In dieser Dimension haben wir eine so große Hilfsbereitschaft vielleicht in der unmittelbaren Nachkriegszeit erlebt, aber bisher nicht in der neueren Geschichte der Bundesrepublik.

Frage: Der Titel Ihres Vertrags lautet „Gemeinsam geht fast alles...". Gibt es Ihrer Meinung nach ausreichend politische Schulterschlüsse, um die Flüchtlingskrise zu meistern? Und wo ist im Sinne des Vortragstitels die Grenze, die Sie sagen lässt: Das geht jetzt nicht mehr...
Dr. Seiters: Ich wünsche mir, dass die Politik in der Flüchtlingshilfe an einem Strang zieht und damit ein deutliches Signal an die Bevölkerung sendet: Wir sind uns einig und handeln, so gut wir das unter den gegebenen Umständen überhaupt können. So haben wir es beim Asylkompromiss Anfang der 90er Jahre gemacht, als ich Bundesinnenminister war. Wir haben 1993 das individuelle Grundrecht auf Asyl gesichert und es nicht beschädigt, aber gleichzeitig den Zuzug von Nichtasylberechtigten begrenzt. Das muss das Ziel mit nationalen und europäischen Antworten auch heute sein. Die Lage ist heute natürlich sehr viel schwieriger, weil wir nicht allein über die EU-Außengrenzen entscheiden können.

Frage: Mit dem Asylpaket II hat der Bundestag am Donnerstag gerade eine deutliche Verschärfung des Asylrechts beschlossen. Hätten Sie zugestimmt, wenn Sie noch im Bundestag sitzen würden? Und wenn ja, warum?
Dr. Seiters: Als DRK-Präsident bin ich in parteipolitischen Fragen zur Zurückhaltung verpflichtet. Wir sollten aber alles tun, um die Flüchtlingsbewegungen in geordnete Bahnen zu lenken und die Asylverfahren zu beschleunigen. Dazu gehört auch, dass wir uns auf die Menschen konzentrieren, die politisch verfolgt werden oder von einem Krieg bedroht sind - bei allen nachvollziehbaren Gründen  von Menschen, die aus rein wirtschaftlichen und sozialen Gründen nach Deutschland kommen. Sonst werden wir an unsere Grenzen stoßen und den wirklich Verfolgten irgendwann nicht mehr helfen können.

Frage: Was wären die dringendsten politischen Schritte, die Sie sich von der Politik wünschen würden, um die Situation für das DRK - aber natürlich auch für die Flüchtlinge - zu verbessern?
Dr. Seiters: Wir stehen bereits vor unserer nächsten großen Herausforderung: Wie gelingt uns die Integration von Hunderttausenden Flüchtlingen, die eine Bleibeperspektive in Deutschland haben? Das fängt mit Sprachkursen an und geht mit der Integration in den Arbeitsmarkt weiter. Aus internationaler Perspektive brauchen wir in Europa -Stichwort Kontingente - ein faires Verteilsystem. Wir brauchen vor allem eine gemeinsame europäische Gesamtkonzeption. Das gilt sowohl für die Sicherung der EU-Außengrenzen, Absprachen mit der Türkei, Einrichtung von Hotspots, Hilfen für Italien und Griechenland sowie für syrische Flüchtlinge, um die Situation der Menschen in den Herkunftsländern zu verbessern. Dann werden sich weniger Menschen auf den Weg in Richtung Europa machen. Allerdings sehen wir derzeit mehr nationale Egoismen als die notwendige Solidarität, und das ist beschämend und besorgniserregend zugleich.

Die internationale Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung ist mit Nationalen Gesellschaften in 190 Ländern die größte humanitäre Organisation der Welt.